Kult und Star. Zwei Wörter, die inflationär verwendet werden, aber nur in den seltensten Fällen wirklich zutreffen. Probieren wir es dennoch mal mit ihnen, waren „The Sisters of Mercy“ doch mal wieder on Tour. Jene Band, die in den 1980er Jahren mit „First and Last and Always“ und „Floodland“ zwei musikalisch wegweisende Alben produzierte sowie 1990 mit „Vision Thing“ ein kommerziell sehr erfolgreiches drittes Studioalbum hinterherschob. Das war es dann auch – seitdem herrscht in Sachen Studioalbum Funkstille. Wer ein Vierteljahrhundert kein neues Album seinen Fans präsentiert, aber immer noch Hallen füllen kann und auf Festivals als Headliner fungiert, den muss eine gewisse Aura umgeben, der muss Kult sein.
Beim Tourauftakt in Köln wurde das allein schon beim Blick ins Publikum deutlich. Junge Leute, die diese Sisters mal hören wollten, vermischten sich mit alten Leuten wie mir, die mit der Musik in den 80ern aufgewachsen sind. Einige dieser alten und jungen Leute sind an diesem Abend mühelos der Goth-Szene zuzuordnen, denen auch die Sisters gerne zugeordnet werden.
Eine Einordnung, die Frontmann Andrew Eldritch überhaupt nicht gefällt, wie er in Interviews gerne kundtut. Er mache keine Gothic- sondern Rockmusik. Angesichts einer solch vehementen Ablehnung muss die Frage erlaubt sein, warum sie dieses Jahr mal wieder auf dem „M’era Luna“, eines der größten Festivals der Goth-Szene, auftreten.
Lethargisches Publikum jenseits der ersten Reihen
In Köln wird nach der Vorgruppe „LSD on CIA“, ein dänisches Rocktrio mit passablem aber austauschbarem Sound, erst einmal die Bühne ordentlich unter Nebel gesetzt. Zu den Klängen von „More“ erscheinen sie schließlich wie aus dem Nichts, die Gitarristen Chris Catalyst und Ben Christo sowie Oberschwester Eldritch. Eldritch hat in einem Interview einmal gesagt, dass er eigentlich nur für die ersten vier Reihen spielt. Eine augenzwinkernde Aussage, die in Köln absolut nachvollziehbar gewesen wäre, angesichts eines lethargischen Publikums jenseits der ersten Reihen. Von Beginn an will der Funke nicht wirklich überspringen, was falsch wäre allein dem Publikum anzukreiden. Zum einen ist da nämlich dieses Palladium als Ort des Geschehens, eine alte Industriehalle, die für Konzerte wie das der Sisters absolut ungeeignet ist. Deutlich länger als breit, zusätzlich an den Seiten mit etlichen Säulen, die die Sicht versperren, verziert und schwierig zu beschallen. Womit wir beim anderen Punkt wären, dem Sound. In den vorderen Reihen ausreichend laut, um jeden Fehler des schlecht abgestimmten Sounds wahrnehmen zu können, hinten viel zu leise, um gute Stimmung aufkommen zu lassen.
Die Sisters haben ihren Zenit definitiv überschritten
Wer wie ich alter Mann noch den Sound aus den Anfängen in den Ohren kleben und danach jahrzehntelang Sisters-Pause gemacht hat, der fragt mal vor einem vorschnellen Urteil bei jenen Fans nach, welche die Sisters seit Jahren begleiten. Till, der seit 1987 die Sisters auf Platte und seit 1990 live hört, erlebte nach dem Kölner Konzert im niederländischen Tilburg sein 30. Konzert. Dem Tourauftakt in Köln gibt er die Schulnote 3 minus. „Offenbar waren sie noch nicht gut eingespielt“, sagt Till, „denn die Konzerte in Tilburg und Brüssel waren herausragend.“ Eine Einschätzung, die auch jene Fans teilen, die bereits dreistellige Konzertbesuche aufweisen können.
Bei aller Nörgelei an Halle, Sound und Publikum muss man ehrlicherweise anmerken, dass die Band nie wirklich eine virtuose Liveband gewesen ist und heute, im Jahr 2016, ihren Zenit definitiv überschritten hat. Nicht von ungefähr finden sich auf den Setlists der letzten Touren immer häufiger ein oder zwei Instrumentalstücke, bei denen der mittlerweile 56-jährige Eldritch durchatmen kann. Ausgeprägter Bühnennebel und Zigarettenkonsum – auch auf der Bühne – haben ihre Spuren hinterlassen.
Ein neues Studioalbum ist nicht mehr zu erwarten
Apropos Setlist. „Die diesjährige ist so langweilig wie 1985“, hat Vicus, Chef des deutschen Sisters-Fanforums, ironisch angemerkt. Vielleicht ein oder zwei Lieder werden von Konzert zu Konzert gewechselt. „Marian“, das in Köln immer wieder vehement eingefordert wurde, fand sich zum Beispiel in Tilburg anstelle von „Flood I“ auf der Setlist. Irgendwie macht das Wünschen von Liedern auf einem „The Sisters of Mercy“-Konzert auch keinen Sinn. So wirklich flexibel ist man nämlich nicht, wenn ein Großteil des Sounds aus einem Drumcomputer stammt. Es ist auch kaum damit zu rechnen, dass die Band noch einmal aus wesentlich mehr Stücken auswählen kann. Seit 1993 werden zwar neue Stücke wie „Crash and Burn“, „Suzanne“ oder „Summer“ gespielt, aber selbst die härtesten Optimisten dürften die Hoffnung auf ein neues Album inzwischen begraben haben. In einem brasilianischen Interview sagte Eldritch, dass ihm das Produzieren von Alben zwar Spaß mache, aber auf das anschließende Promoten er keinen Bock hätte. Dafür hat er zur Freude vieler Fans wieder Bock an Konzerten. Nur Glück muss man offensichtlich haben, dass man einen guten Auftritt erwischt. „Die Belgier und Niederländer haben reine Konzerthallen, die von außen und innen einfach Laune machen“, sagt Till, „da kommt der Sound gut rüber und die gute Stimmung stellt sich schnell ein.“
Von Ravey Davey, der den Drumcomputer „Mr. Avalanche“ bedient und auf Konzerten mit seiner Technik immer komplett im Nebel verschwindet, bekam er nach dem Auftritt in Tilburg noch dessen Setlist überreicht. Für Fans wie Till lassen solche Erlebnisse, die Reisen zu den Konzerten und die Treffen mit anderen Sisters-Anhängern rund um die Konzerte, das eigentliche Konzert schon fast zur Nebensache werden. Wie groß der Zusammenhalt unter den Fans ist, wurde nach den Konzerten in Brüssel deutlich als zahlreiche Fans aufgrund von Terroranschlägen festsaßen. Sofort wurde über die sozialen Netzwerke nachgehört, ob es allen Fans gut geht.
Wer, wie in Köln, ein eher durchschnittliches Konzert erlebte, und kein Sisters-Konzert mehr besuchen will, sollte es beim diesjährigen „M’era Luna“-Festival im August eventuell doch noch einmal wagen. „2010 haben die dort einen gigantischen Auftritt hingelegt, bei dem alles gestimmt hat“, erinnert sich Till. Es besteht also für ein wenig enttäuschte Alt-Fans wie mich noch Hoffnung. Und wer mit dieser Hoffnung aus dem Artikel aussteigen möchte, sollte jetzt nicht weiterlesen. Till hat nämlich auch schon einmal erlebt, wie ein besoffener Eldritch auf der Bühne aufgeschlagen ist. Aber irgendwie gehören solche Geschichten doch zu einem Star dazu und verleihen dem Kult um ihn erst das gewisse Etwas…
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